Die «Neutralitätsinitiative» der SVP, die die «immerwährende und bewaffnete Neutralität» in der Verfassung festschreiben und primär auf die Aufhebung von völkerrechtlichen Sanktionen wie diejenigen der Europäischen Union gegen Russland zielt, steht ante portas. In der kommenden Juni-Session wird sie der Ständerat behandeln. An einer Impulstagung zur Neutralitätsinitiative des Schweizerischen Friedensrates am 18. Mai in Bern wurden die negativen Auswirkungen des Volksbegehrens diskutiert und für eine glaubwürdige Friedens- und Sicherheitspolitik plädiert.
/ Peter Weishaupt /

Eröffnet wurde die Impulstagung von Flavia von Meiss, der Leiterin der Sektion Völkerrecht im aussenpolitischen Departement, die die Haltung des Bundesrates dezidiert, aber nüchtern erläuterte: «Die Annahme der Initiative würde eine Abkehr von der bewährten Flexibilität bei der Anwendung der Neutralität bedeuten und den Handlungsspielraum des Bundesrates einschränken. Dieser Handlungsspielraum ist für die Wahrung der Interessen der Schweiz zentral. Eine Annahme der Initiative hätte negative Auswirkungen auf die Aussen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik der Schweiz. Die Neutralität würde als starres Konzept in der Bundesverfassung verankert und liesse kaum noch Spielraum, um auf aussenpolitische Herausforderungen reagieren zu können. So wäre zum Beispiel die Übernahme von Sanktionen gegenüber kriegführenden Staaten ausserhalb der UNO nicht mehr möglich. Sanktionen sind heute ein wichtiges Instrument der Staaten, um auf Völkerrechtsverletzungen zu reagieren. Zudem wäre die Möglichkeit zu einer sicherheits- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit stark eingeschränkt, was die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz schwächen würde.»
Unter der Leitung des NZZ-Redaktors Ivo Mijnssen, der aus Wien die Kriegsführung Russlands gegen die Ukraine kontinuierlich verfolgt, diskutierten an einem Podium Odile Ammann, Professorin für Völker- und Europarecht an der Universität Lausanne, Günther Baechler, Friedensforscher und Mediator, der als Schweizer Botschafter in verschiedenen Friedensprozessen engagiert war, Laurent Goetschel, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace sowie Franziska Roth, Solothurner SP-Ständerätin und Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission, darüber, was für eine glaubwürdige Friedenspolitik auf dem Spiel steht, wenn die Neutralitätsinitiative angenommen würde.

Russland-Sanktionen nicht betroffen
Einig waren sich alle, dass das angestrebte Verbot der Übernahme von Sanktionen ausserhalb der UNO indiskutabel ist und diese die schweizerische Neutralität in keiner Weise ritzen, denn hier ist das Völkerrecht massgebend, das insbesondere bei Kriegsverbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen durch Staaten Massnahmen gegen diese nicht nur erlaubt, sondern erfordert. Dass die Neutralitätsinitiative allenfalls Sanktionen der UNO ausnimmt, ist eine besondere Schlaumeierei ihres Initianten Christoph Blocher («Brotsperre gegen Russland»), der genau weiss, dass UNO-Sanktionen äusserst selten sind, die die Interessen der Atommächte im Sicherheitsrat tangieren, weil deren Vetomöglichkeit solche nichtmilitärischen Massnahmen trotz eklatanter Verletzung des Völkerrechts zuverlässig zu verhindern pflegt. Im Übrigen würde die Initiative, die einzig wegen der Sanktionierung Russlands lanciert worden ist, auch die Übernahme allfälliger (berechtigter) EU-Sanktionen gegen das Vorgehen Israels in Gaza verunmöglichen, auf das eine Publikumsintervention zu Recht hinwies.
Günther Baechler vertrat die provokativste Haltung zur schweizerischen Neutralität, diese gehöre eindeutig ins Mausoleum. Am Beispiel Norwegen wies er darauf hin, dass das Land weder neutral noch bündnisfrei sei, die Mitgliedschaft in der Nato Oslo aber keineswegs daran hindere, sowohl in der UNO als auch bilateral eine äusserst aktive und engagierte Friedenspolitik mit grosser innenpolitischer Verlässlichkeit und hoher internationaler Akzeptanz zu betreiben. Neutralität sei keine Voraussetzung für die Friedensförderung und stehe nicht im Zentrum derer Überlegungen.
Es gibt keine nationale Selbstverteidigung mehr
Während sich der neutrale Staat auf die Einhegung der Kriegsführung konzentriere, gehe es längst und hauptsächlich um das Kriegsführungsverbot mittels einer tragfähigen Friedensordnung für alle. Abgesehen davon gebe es heute keine nationale Selbstverteidigung mehr, das heisst, die Grundvoraussetzung für die «immerwährende und bewaffnete Neutralität» sei nicht mehr möglich. Für eine aktive Friedenspolitik sei die Bemühung um Unparteilichkeit zentral, nicht die Neutralität.
Etwas andere Akzente setzte Laurent Goetschel, der die Neutralität durchaus als aussenpolitisches Instrument mit ihrer Vermittlungstätigkeit sieht. Sie sei nicht lebensbestimmend für die Schweiz, doch ihre Abschaffung würde eine grundsätzlich andere sicherheitspolitische Orientierung voraussetzen. Eine rigide Verankerung der Neutralität sei nicht zielführend, aber um sie aktiv nutzen zu können, brauche es einen klaren politischen Willen.
Franziska Roth wandte sich vehement gegen einen undefinierten Begriff der Neutralität, wie er nach wie vor verwendet werde. Die Haager kriegsvölkerrechtliche Konvention von 1907, auf die sich die Schweiz bezüglich deren neutralitätsrechtlichen Bestimmungen beziehe, sei durch die UNO-Charta mit ihrem absoluten Verbot des Krieges zwischen Staaten, die für die Schweiz seit ihrem Beitritt zu den Vereinten Nationen völkerrechtlich bestimmend sei, völlig überholt. Sie plädierte für eine wirksame Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf. Dass sich die Schweiz nicht einmal dazu aufraffen konnte, Schutzwesten an die ukrainische Bevölkerung zu liefern, um sich gegen die Angriffe Moskaus zu schützen, sei einfach nur skandalös.

Kann die Schweiz mit dem Neutralitätsstatus noch leben?
Odile Ammann bezeichnete die schweizerische Neutralität als zunehmend rechtfertigungsbedürftig. Zwar habe die UNO-Charta das Neutralitätsrecht nicht einfach ausser Kraft gesetzt, doch sei zu fragen, ob die Schweiz es noch verkraften könne, angesichts der internationalen Entwicklungen mit den Konsequenzen des Neutralitätsstatus zu leben. Eine «Gesinnungsneutralität» gebe es aus juristischer Sicht nicht, die Gewalt eines Staates dürfe man verurteilen und nichtmilitärische Sanktionen übernehmen. Aber für die Abschaffung des Neutralitätsstatus bräuchte es eine Verfassungsänderung.
Am Nachmittag diskutierten die TeilnehmerInnen, angeleitet von einer Crew von foraus, dem Think Tank zur schweizerischen Aussenpolitik, an vier Gesprächstischen über die Auswirkungen der Neutralitätsinitiative auf die internationale Solidarität. An Tisch 1 diskutierte man das Thema unter der Leitung von Wolfgang Bürgstein von der katholischen Kommission Justitia et Pax, die eine kritische Stellungnahme zur Neutralitätsinitiative erarbeitet hatte, und Barbara Haering vom Genfer Zentrum für humanitäre Minenräumung.

Solidarität gegen Kriegsverbrecher
Markus Heiniger von der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA sowie Eva Schmassmann von der Plattform Agenda 2030 hatten die Leitung an Tisch 2 zu Friedensförderung und nachhaltiger Entwicklung. Die Leitung von Tisch 3 übernahmen Sanja Ameti von Operation Libero und Peter Weishaupt vom Friedensrat zu Aussenpolitik und kollektiver Sicherheit. Am grössten und lebendigsten Tisch 4 unter der Leitung des Historikers Peter Hug sowie Markus Mugglin von der SGA ging es um die Sanktionspolitik, ihrer Notwendigkeit als Beitrag zur internationalen Solidarität gegen Kriegsverbrecher, aber auch um die Schwierigkeiten, ihren Zielen gerecht zu werden.
Die Abschlussrede hielt Martin Dahinden, früherer Deza-Chef und Botschafter in den USA, der unterstrich, dass Neutralität nicht Teilnahmslosigkeit bedeute, sondern im Gegenteil eine Verpflichtung gerade auch in der Friedenssicherung bilde, nicht nur im europäischen Umfeld, sondern weltweit. Diese schweizerische Soft-Power sei das engagierte Einstehen für das Völkerrecht und für funktionierende multilaterale Institutionen. Die Genfer Zentren im Maison de la paix seien ein weltweit anerkanntes Kompetenzzentrum der Schweiz für Aussen-, Sicherheits- und Friedenspolitik. Dieses Potenzial müsse aber auch tatsächlich genutzt werden, was leider heute nicht ausreichend der Fall sei.
Zur Webseite der Tagung.
Die ganze Podiumsdiskussion ist hier nachzuhören.
Relevante Texte zur Neutralitätsdiskussion sind hier dokumentiert.