Gertrud Kurz und ihr christlicher Friedensdienst
Der ihr verliehene Ehrentitel «Flüchtlingsmutter» zeigte die Wertschätzung, die man Gertrud Kurz als unermüdlicher Helferin entgegenbrachte, aber auch ein wenig Geringschätzung, da sie so in die traditionelle karitative Rolle der mütterlichen Frau eingehegt wurde. Sie selbst verkörperte in Erscheinung und Auftreten beide Seiten.
Gerade diese Ambivalenz hat die Publizistin Susan Boos frappiert und fasziniert. Boos war einst, Ende der 1980er-Jahre, selbst journalistisch stark mit der Flüchtlingspolitik beschäftigt, aber Gertrud Kurz, 1972 verstorben, erschien, auch im Rückblick, nur als eine Randfigur. Für den im letzten Herbst erschienenen Porträtband «Projekt Schweiz» hat sich Boos nunmehr intensiver mit Kurz beschäftigt, Gespräche mit Verwandten und Mitarbeiterinnen geführt, die Kurz noch gekannt haben. Und sie hat die nicht unbeträchtlichen Fichen im Bundesarchiv eingesehen. Darüber sprach Susan Boos kürzlich an einer Veranstaltung des Schweizerischen Friedensrats im Café de la Paix im erinnerungsträchtigen Gartenhof in Zürich.
Gertrud Kurz (1890-1972) gehört in der öffentlichen Wahrnehmung zu Bern, wo sie ihre hauptsächliche Arbeit geleistet hat. Dabei war sie im Appenzellischen geboren, als Gertrud Hohl, in einer begüterten Fabrikantenfamilie, im Appenzellischen auch emotional verankert. Erst nach der Heirat mit dem Gymnasiallehrer Albert Kurz 1912 zog sie nach Bern. Bald bot sie in ihrem Haus Obdachlosen, Fahrenden, aus dem Gefängnis Entlassenen eine warme Mahlzeit oder andere Unterstützung an. Das tat sie aus einem radikalen evangelischen Christentum heraus, und dabei kannte sie keinerlei Berührungsängste oder Vorurteile.
Ende 1938 erfuhr sie von ihrer Mutter vom Los jüdischer Flüchtlinge und begann mit ihrem Engagement für Flüchtlinge, aus dem der heute noch bestehende Christliche Friedensdienst (cfd) entstand. Darin schlug sich wohl auch ihre Herkunft nieder. Der Ausblick vom Appenzeller Vorderland über die Grenze macht aufgeschlossener, offener, wie OstschweizerInnen am Abend im Gartenhof bekräftigten. Aus dem Appenzellischen stammte etwa auch Pfarrer Paul Vogt, der 1933 in Walzenhausen den Sonneblick als soziales Wohnheim eröffnet hatte. Vogt wirkte ab 1936 im Zürcher Vorortsquartier Seebach, unterstützte dort, ähnlich wie Kurz in Bern, Flüchtlinge und trat 1943 in Zürich eine eigens geschaffene Stelle als «Flüchtlingspfarrer» an. Kurz hatte bald Kontakt mit ihm und führte ab 1947 im Sonneblick jährliche Besinnungs- und Erholungswochen durch, als Schauplatz einer internationalen Versöhnungs- und Friedensarbeit.
Gut bürgerlich
Die gutbürgerliche Herkunft von Kurz äusserte sich in einem Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, einer Selbstverständlichkeit im Umgang mit gesellschaftlich massgeblichen Kreisen, die zugleich durch ihren christlichen Glauben gefestigt wurde; andererseits musste sie sich als Frau gegen die dominierenden patriarchalen Strukturen durchsetzen.
Susan Boos veranschaulichte dieses Widerspiel von sozialer Herkunft und Geschlechterrollen an drei symptomatischen Episoden.
Da ist die berühmte Unterredung mit Bundesrat Eduard von Steiger im Sommer 1942, mit der Kurz eine – vorübergehende – Öffnung der Schweizer Grenze für jüdische Flüchtlinge erreichte. Kurz suchte zusammen mit dem Genfer Diplomaten Paul Dreyfus-de Gunzburg den konservativen Bundesrat in dessen Ferienhaus auf dem Mont Pèlerin auf und konnte ihm in einem dreistündigen Gespräch eine humanere Asylpolitik abringen. Ja, sie hatte keine Angst vor Autoritäten. Dass die Schweizer Grenzen nach ein paar Wochen wieder undurchlässiger wurden, zeigt allerdings Möglichkeiten und Grenzen solcher privater Interventionen.
Das Verharren in traditionellen Wahrnehmungen äusserte sich in einer Episode mit ihrem Sohn Hans-Rudolf Kurz. Der war von 1949 bis 1980 als stramm konservativer Generalstabsoffizier im Militärdepartement und als Militärhistoriker tätig. Als Gertrud Kurz einmal zugetragen wurde, die Schweizer Behörden hätten Listen von subversiven Personen zusammengestellt, die bei einem nationalen «Notfall» interniert würden, befragte sie dazu ihren Sohn; und als der ihr versicherte, so etwas habe es nie gegeben und werde es nie geben, gab sie diese Auskunft unhinterfragt weiter.
Schliesslich ist da ihr Auftauchen und Verschwinden in den Fichen. Die umfassen immerhin neun Seiten, reichen von 1943 bis 1963, in der bekannten, skandalösen Mischung von internen Informationsfetzen, die durch Bespitzelungen gewonnen wurden, und banalen öffentlich zugänglichen Angaben. Bei Gertrud Kurz scheinen sich die Beobachter nie klar geworden zu sein, welche Art Person sie da vor sich hatten und was sie bei ihr aufspüren sollten. Immer wieder wird ihre öffentliche Bekanntheit zitiert, als ob sich die Spitzel versichern müssten, dass es nicht an ihnen lag, wenn nichts Verwerfliches entdeckt werden konnte. Ja, Kurz verkehrte mit Kommunisten – aber sie distanzierte sich unmissverständlich von diesen. Während bei andern Überwachten allein schon solcher Kontakt als inkriminierend galt, kam Kurz gerade ihre Offenheit zu gute: Wer mit so vielen Menschen aus einem so breiten politischen Spektrum verkehrte, konnte nichts Umstürzlerisches im Schilde führen. Die Person entzog sich ins öffentliche Bild, das keinerlei Angriffsflächen bot.
Brücken schlagen
Das von Kurz gegründete Hilfswerk nannte sich Friedensdienst, und ihre Flüchtlingsarbeit verstand sie immer auch als Friedensarbeit. Was aber, so wurde am Abend beim Friedensrat diskutiert, hiess das in konkreten politischen Situationen? Unbestritten ging es ihr ums Brückenschlagen. So schuf sie die Berner Friedenswoche als Treffpunkt und Diskussionsforum. Kurz und das cfd waren in bemerkenswerter Weise international vernetzt und engagiert. Auch hier wieder war sie offen auf alle Seiten hin, im Sinne einer allgemeinen, friedlichen «Völkerverständigung». So unterstützte der cfd 1956 Ungarnflüchtlinge, während gleichzeitig an der Friedenswoche der Rassismus im südlichen Afrika diskutiert wurde. Tatsächlich beschäftigte sich Kurz schon früh mit Problemen der «Entwicklungsländer», vor allem in Afrika. So wurde 1960 ein Schulprojekt im heutigen Zimbabwe und wenig später eine Mütterberatung in Algerien initiiert. Trotz eindeutiger Unterstützung für den Staat Israel organisierte der cfd bald auch erste Projekteinsätze in der palästinensischen Westbank, und 1967 wurde im dortigen Bethanien ein Kinderheim für Waisen und Behinderte aufgebaut. In solche Projekte der intra-nationalen Verständigung wurden gelegentlich illusionäre Hoffnungen gesetzt. Ginevra Signer, in den letzten Jahren von Kurz eine Art persönliche Assistentin von dieser, schilderte an der Veranstaltung im Gartenhof, wie Kurz einst im konfessionell gespaltenen Belfast ein Begegnungszentrum einrichten wollte, was sich in der damals gewalttätig zugespitzten Lage als unmöglich erwies.
Noch während ihres Lebens hatte Kurz vielfältige Ehrungen erhalten, etwa 1958, als erste Frau, die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Uni Zürich, oder 1965 den Albert-Schweitzer-Preis der Königin der Niederlande. 1992 prägte die Eidgenossenschaft eine Gedenkmünze zu ihrem 20. Todestag. Danach flachte das Interesse ab, nimmt in letzter Zeit aber wieder zu. So ist ihr seit 2017 eine Station im Appenzeller Friedensweg gewidmet; 2021 wurde sie auch im Rahmen der Hommage-Veranstaltungen anlässlich des Jubiläums zum Frauenstimmrecht gewürdigt.
Arbeitsteilungen
Der cfd hat mittlerweile ein gelegentlich distanziertes Verhältnis zur Gründerin. Das hängt mit anderen Akzentsetzungen zusammen. 1971, ein Jahr vor ihrem Tod, wurde der cfd als privater Verein neu gegründet, davon losgelöst entstand 1974 die Stiftung Gertrud Kurz. Wenn Kurz auf informelle Einflussnahme vertraut hatte, bezog der cfd zunehmend explizit politisch Stellung. 1980 wurde eine «Frauenstelle für Friedensarbeit» eingerichtet. Mit der «Privatisierung» der Flüchtlingshilfe durch den Bund Ende der 1980er-Jahre wurde der cfd finanziell überfordert und zog sich 1993 aus der unmittelbaren Flüchtlingsbetreuung zurück. Verbunden mit einer Strukturreform wurde die Arbeit gezielt auf die Verbesserung der Situation von Frauen ausgerichtet; 1997 gab sich der cfd ein feministisches Leitbild. In der hauseigenen cfd-Geschichte wird das Schweigen von Kurz gegenüber den politischen Behörden, das sie während des Zweiten Weltkriegs im Dienst ihrer konkreten Flüchtlingsarbeit pflegte, ziemlich kritisch beurteilt. In einem Sonderheft zum 80. Geburtstag des cfd wird sie nur knapp erwähnt, und ihre Pionierinnenrolle für die Arbeit in Palästina kommt nicht vor.
Hatte die Arbeit von Gertrud Kurz auch politische Auswirkungen, oder war sie «nur» karitativ tätig? In der an der Veranstaltung diskutierten Frage steckt auch die Frage, ob und wie sie mit anderen Organisationen zusammenarbeitete, die sich stärker als öffentliche Lobbyorganisation und als Teil einer sozialen Bewegung verstanden, wie etwa auch der Schweizerische Friedensrat (SFR). Der SFR wurde im Dezember 1945 als Koordinationsorgan von 22 pazifistisch orientierten Organisationen gegründet und sollte nach dem Zweiten Weltkrieg mit friedenspolitischen Initiativen eine Öffnung der Schweiz und eine soziale Innen- sowie eine solidarische Aussenpolitik befördern helfen. Der cfd, so erzählte es der jetzige SFR-Präsident Ruedi Tobler, war bald Mitglied beim SFR, und er selbst hat Gertrud Kurz als SFR-Vorstandsmitglied bei seinem Einstellungsgespräch direkt erlebt. Ein spezifisches Anliegen wie die Einführung eines Zivildienstes hat sie wohl kaum aktiv unterstützt, aber der soziale und moralische Wiederaufbau nach dem Krieg, das Überwinden des Blockdenkens und das Bemühen um eine neue gerechtere Weltordnung entsprachen durchaus ihren Vorstellungen. Mit ihren internationalen Initiativen versuchte Kurz die Themen von Frieden, Frauen und Entwicklungszusammenarbeit zu verbinden.
Solches tat sie allerdings in ihrer besonderen Form, mit ihrer besonderen Haltung, die sich den politischen Strukturen entzog und pragmatisch auf den Einzelfall konzentrierte. Äusserte sich darin eine «List der Ohnmacht» (Claudia Honegger), eine, auch zeitlich bedingte, spezifisch weibliche Widerstandsform? Susan Boos nennt Kurzens Wirken, die herkömmlichen Machtstrukturen zu unterlaufen, eine «Empathie als Subversion». Darin könnte sich, jenseits geschlechtsspezifischer Zuordnungen, auch eine Arbeitsteilung in der Flüchtlings- und Friedenspolitik äussern. Zum 50. Todestag von Gertrud Kurz am 26. Juni und angesichts des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine gibt es jedenfalls genügend aktuelle Fragen.
Stefan Howald